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Harry Walstra (NL)
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Der Mord an Lutz Eigendorf

Es ist Mittwochabend, der 15. November 1978. Holland bestreitet in Rotterdam vor 45.000 Zuschauer das dritte EM-Qualifikationsspiel gegen die DDR.
Die Stars Willem van Hanegem und Johan Cruijff sind nicht mehr dabei, aber mit Spielern wie Ruud Krol, Johan Neeskens und Rob Rensenbrink hat „Oranje“ genügend Qualität vorzuweisen. Holland gewinnt souverän mit 3:0 gegen die DDR. Daran vermag auch der 22-jährige Lutz Eigendorf nichts zu ändern.
Ein Jahr später, am 21. November 1979, wird in Leipzig vor 90.000 Zuschauern das letzte und entscheidende Gruppenspiel DDR-Holland ausgetragen. In der DDR-Mannschaft eine Überraschung: Lutz Eigendorf fehlt. Verletzt? Krank? Nein: geflüchtet!

Er ist schrecklich nervös. Nie wirkte er so ängstlich. Seine Finger zittern ein bißchen. Vor einigen Tage ist er geflüchtet. Nach dem Freundschaftsspiel FC Kaiserslautern - BFC Dynamo Berlin hatte er einen Spaziergang in Gießen dazu genutzt, einfach wegzulaufen. In einem Taxi war er dann zur Geschaftsstelle des FC Kaiserslautern gefahren. Der Geschaftsführer des FC Kaiserslautern, Norbert Thines, hat ihn aufgenommen. Er übernachtet dort im Ehebett, Hand in Hand, denn er ist zutieftst verunsichert. Was wird die Stasi jetzt machen? Er weiß, der riesige Mielke-Apparat in der Normannenstraße hat zu rotieren begonnen. Sind sie schon in Kaiserslautern? Was ist mit seiner Frau Gabriele und Tochter Sandy? Er wird alles versuchen. Sie müssen auch nach Kaiserslautern kommen!!!
Weg von seiner Gabriele, Sandy, Familie und von Freunden. Weg von seiner Heimat. Er kennt keinen, weder hier in Kaiserslautern noch anderswo. Es war dennoch die einzige Alternative, in der DDR wäre er verrückt geworden, mit dem Kopf gegen Mauern gelaufen.

Er bedauert es schrecklich für Gabriele, Sandy, Familie und Freunde, weil sie die Folgen seiner Flucht zu ertragen haben, aber er musste gehen. Er hatte keine andere Wahl. Eigentlich ist ihm ganz bange, er weiß nicht, was er im Westen erwarten kann. Er kennt keinen, aber sie kennen ihn! Sechsfacher DDR-Nationalspieler und er wird anerkennend der ostdeutsche Beckenbauer genannt. Als Fussballspieler wird er nach der Sperre auch in der Bundesliga erfolgreich sein. Fussball spielen gegen Breitner, Rummenigge und Keegan in den großen Stadien, phantastisch! Er versucht sich das vorzustellen, um die schreckliche Angst zu vergessen.

Berlin, den 22. März 1979. Ohne ein Wort zu den beiden Stasi-Männern zu sagen, steigt Gabriele Eigendorf-Richter aus dem MfS-Dienstfahrzeug. Sie schaut auf ihre Uhr, eine Viertelstunde nach Sieben! Endlich wieder zu Hause.
Gestern abend halb zwölf wurde geklingelt. Ja, der Lutz ist da! Sie hatte die ganze Abend schon gewartet. Die Jungs wurden schon um zehn Uhr in Berlin zurückerwartet. Als sie die Tur öffnete, standen dort zwei Männer in langen Mänteln. Sie wußte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. „Frau Eigendorf?“ hatte der Größere gefragt. „Ja!??“ hatte sie ängstlich geantwortet.

„Ihr Mann ist nicht zurückgekehrt aus der BRD, und sie müssen mitkommen zur VP-Inspektion!!“ Sie war erst völlig fassungslos gewesen, erst danach konnte sie sagen, daß sie nicht mitkommen kann, weil ihr zweijähriges Töchterchen Sandy sonst allein bleiben müsse. Nach einigem Hin und Her wurde eine Mitarbeiterin des Ministeriums fur Staatssicherheit gerufen, die auf Sandy aufpassen sollte. Eine Viertelstunde später saß sie in einem kleinen Zimmer einem Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren mit scharfem Blick gegenüber. Er sprach mit lauter Stimme und begann mit der Vernehmung:

„Welche Kenntnis besitzen sie über eine vorgefaßte Absicht ihres Ehemannes, von diesem Spiel in Kaiserslautern nicht wieder in die DDR zurückzukehren?“

„Welche Kontakte bestanden zwischen ihrem Ehemann und den republikflüchtigen Fussballern Nachtweih und Pahl?“

„Können sie ihre ehelichen Verhältnisse charakterisieren?“

„Welche Personen gehören zum engeren Freundeskreis ihres Ehemannes?“

Eine nicht ungefährliche Situation, Mitwisserschaft über Republikfluchten, die nicht zur Anzeige gebracht wurden, stand in der DDR unter Strafe. Fluchthilfe wurde nach dem Zweiten Strafrechtsänderungsgesetz sogar mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht.

Fragen, Fragen, Fragen. Auch Gabriele hat nur Fragen. Die wichtigste: Weshalb hat Lutz das gemacht? Sie ist nicht nur traurig, sondern auch böse. Sie hat nichts davon gewusst! Lutz hatte versprochen, eine schone Bluse fur sie zu kaufen. Und zu Sandy hat er gesagt, daß Papa einen Ball mitbringen werde, wenn er zurückkommt.

Sie sind jung, haben eine ganz schöne Wohnung und sogar ein eigens Auto! Endlich steht sie wieder in der Zechlinerstraße Nummer drei. Gabrielle öffnet die Tür und läuft schnell hinein. Sie ist übermüdet und will nur noch schlafen, aber erst muß sie Sandy sehen.
Sie geht ins Kinderzimmer, schaut ins Bett. Sandy ist nicht da! Sie rennt durch die anderen Zimmer und in die Küche. Die MfS-Mitarbeiterin ist auch nicht da. Sandy!!! Sie schreit und wird von panischer Angst erfaßt.

Früher war Heinz Kuhn alias IM (Inoffizieller Mitarbeiter) „Buchholz“ Oberfeldwebel gewesen. Im Zweiten Weltkrieg war er Panzerfahrer. Er hatte dort soviel erlebt, daß er ein überzeugter Antifaschist geworden war.
Jetzt mit 62 Jahren ist er ein zu dicker Invalidenrentner und lebt in Duisburg, wo er manchmal als Aushilfe bei verschiedenen Taxi-und Busunternehmen etwas hinzuverdient. Er hat aber noch einen Nebenverdienst: Spitzel fur die Stasi im „Operationsgebiet“ (Terminus der Stasi für die Bundesrepublik Deutschland, Westberlin und die westlichen Länder).

Es war ein reiner Zufall gewesen. Bei einer Reise in die DDR hatte Kuhn an der Grenzübergangstelle Marienborn den Steckbrief des geflohenen Grenzsoldaten Weinhold entdeckt. Er hat sich spontan bei den Grenzern gemeldet und gesagt, daß er diesen Mann kenne. Das war der Einstieg in eine jahrelange Zusammenarbeit.
Ab 1977 hat er insgesamt mehr als 20 Personen bespitzelt. Meist ehemalige DDR-Bürger, von Taxiunternehmern bis Künstler, von „Menschenhändlern“ bis hin zu geflüchteten Fußballspielern.
Regelmäßig fliegt Buchholz ab jetzt für einige Tage von Duisburg nach Kaiserslautern, übernachtet aufwendig in einem Hotel. Fast jeden Tag schaut er beim Training des FC Kaiserslautern zu. Erzählt, daß er Invalidenrentner ist und begeisterter FCK-Fan dazu.

Wie bei allen anderen Bundesligavereinen sind auch hier viele ältere Männer jeden Tag beim Training und halten mit lauten Kommentaren über Spieler und Trainer nicht hinter dem Berg. Sein Ziel ist jedoch nicht nur das Trainig. Er ist Lutz Eigendorf gefolgt. Er kennt alle neuen Adressen, die Eigendorf durch vielfachen Umzug wechselte. Er hat die Wohnungen fotografiert und in seine Berichterstattung nach Ost-Berlin die Beschaffenheit der Schlösser in den Haustüren einbezogen (auch im Falle von Jürgen Fuchs ist das MfS so „bedient“ worden).

Er rapportierte über die Tageseinteilung von Eigendorf und wie lange die erste Mannschaft trainiert hat. Gegenstand der Berichte waren ferner die Arbeitszeiten der Geschäftsstelle des FC Kaiserslautern, wo Eigendorf im ersten Jahr nach seiner Flucht gearbeitet hat, weil er damals noch einer Spielsperre unterlag. Ebenso die Resultate von Eigendorf als Jugendtrainer des FCK und die genauen Fahrtrouten Eigendorfs von seinem Haus zum Betzenbergstadion.

Berichtet wurde auch über die verschiedenen Autos des „Verräters“, woran sein Superior vor allem interessiert war. Was waren das für Autos? Hatte er Neigungen zu erhöhtem Risiko an den Kreuzungen und vor allem: Hat er immer sein Auto abgeschlossen? Buchholz weiß alles und berichtet alles. Über die Liebesverhältnisse, die Bar- und Diskotheken und selbst welches Bier Eigendorf trinkt. Auch macht er Bilder von Eigendorfs Tennisverein. Er hat sogar mit Eigendorf im Clubrestaurant an einem Tisch gesessen und ihn eine Dreiviertelstunde ausgehorcht.

Für ein Training hatte er extra eine Fahne des FCK gekauft und vor dem Ankleidezimmer Lutz um ein Autogramm gebeten. Er durfte in das Ankleidezimmer kommen und Lutz hatte ausgerufen: „Jungs, hier ist ein Fan aus der Zeit von Fritz Walter, er hat einen Wimpel gekauft!“ Mit den Autogrammen von Mannschaftsführer Gunther Neues, Nationalspieler Hans-Peter Briegel und Eigendorfs Freund Hannes Bongartz war er wieder nach draußen gekommen.

Berlin, den 25. März 1980. Peter Hommann liegt neben Gabriele Richter. Gabriele war verheiratet mit Lutz Eigendorf, aber am 7. Juni 1979 ist die Scheidung ausgesprochen worden. Einen Tag danach hat sie sich mit ihm verlobt. Kurze Zeit später haben sie geheiratet und jetzt ist Gabriele schwanger! Peter ist zufrieden, das war seine Absicht.
Gabriele war eine Jugendliebe. Kurz nach der Flucht ihres Mannes sind sie einander begegnet. Gabriele war verunsichert und nervös. Sie wußte natürlich, daß die Stasi alles beobachtete, weil sie ihre Flucht mit Tochter Sandy oder das Aufsuchen der westdeutschen Vertretung in Ostberlin.befürchteten. Sie hatte gesehen, daß ihr Haus überwacht und sie durch verschiedene Männer verfolgt wurde. Auch wusste sie, daß ihre Post abgefangen wurde. Nur ein Brief war von Lutz angekommen, obwohl er darin geschrieben hatte, daß er sie und Sandy über alles liebt.

Im Moment ihrer „zufälligen“ Begegnung mit dem Freund verflossener Zeiten war Sie zutiefst bestürzt. Sandy war drei Tage durch die Stasi entfuhrt und sie dadurch furchtbar ängstlich und vereinsamt gewesen.
Er ist im richtigen Moment gekommen. Ein hochgewachsener, athletischer Mann von 24 Jahren mit einem anziehenden Gesicht und blauen Augen. Gabriele schläft gerade, zuvor hat sie wieder Stunden mit ihm geredet. Er weiß alles über Gabriele. Sie hingegen nichts über ihn. Er ist Stasi-Mitarbeiter.

Karl-Heinz Felgner, alias IM „Klaus Schlosser“, ist mitleidslos und extrem gefährlich. 1969 saß er als 25jähriger wegen mehrfacher Körperverletzung, gewaltsamer Unzucht und Beihilfe zum Raub schon vier Jahre im Gefängnis Leipzig ein. In dieser Situation wurde er wie viele andere von der Stasi als IM angeworben. Die Stasi hatte einen gewaltsamen Mitarbeiter und „Klaus Schlosser“ vorzeitige seine Freiheit gewonnen. Nach seiner Freilassung begann er ein neues Leben, wurde ein erfolgreicher Boxer und DDR-Meister in seiner Gewichtsklasse. 1973 beendete er seine aktive Sportlerlaufbahn. Er wurde Portier in einer Ostberliner Kneipe, wo er regelmäßig einem anderen Spitzensportler begegnete, Lutz Eigendorf. Karl-Heinz und Lutz waren populäre Jungs im Nachtleben Ostberlins und gelegentlich tranken sie zusammen einige Biere.

Nach der Flucht Eigendorfs war Schlosser für die Stasi der geeigneteste Mann. Er mußte Informationen über ihn sammeln. Im August 1980 verzog er legal in den freien Westen. Von nun sitzt er neben Lutz in dessen schwarzem Alfa Romeo und fährt mit ihm von Braunschweig in das Dörfchen Grassel. Hier leben Lutz seine neue Frau Josi Müller. Lutz hat ihm gerade anvertraut, daß Josi ein Kind erwartet, es ist der 2. November 1982. Vor zwei Jahren hatte er zu Lutz Kontakt aufgenommen und innerhalb kurzer Zeit war es wie früher. Häufig war er für einige Nächte Logiergast in Kaiserslautern.

Lutz fühlte sich dort zu Hause, aber sportlich gesehen blieb der Erfolg aus. Er hatte einmal in im DFB-Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt gespielt. Das Ergebnis 1:3 für die Eintracht. Aber im letzten Jahr saß er oft auf der Ersatzbank, weil er immer öfter Probleme mit Trainer „Kalli“ Feldkamp und der kritischen, lokalen Presse hatte. Der Transfer zu Eintracht Braunschweig war für ihn eine Befreiung gewesen.

Auch hier fühlte Lutz sich bald zu Hause und er ist Mitglied im Braunschweiger Flugverein geworden. Seinem Führungsoffizier (die Stasi war organisiert wie eine moderne Armee), Oberstleutnant Heinz Hess, konnte er darüber bei der nächsten Begegnung in Ost-Berlin wieder reichlich erzählen.

Ausgebreitet berichtete er Hess über das Haus von Eigendorf, über das Dorf Grassel. Die Türschlosser, die Flugfortschritte von Eigendorf... nichts wurde ausgelassen. Wie immer war Hess vor allem interessiert an dem Auto von Eigendorf und die Routen, welche er vorzugsweise wählte.

Samstag, den 5. März 1983. Lutz Eigendorf sitzt schwer enttäuscht auf den Ersatzbank beim Spiel Eintracht Braunschweig-VFL Bochum. Eintracht verliert mit 0 : 2. Beim Abendessen der Mannschaft nach dem Spiel herrscht tiefes Schweigen, Eigendorf trinkt ein oder zwei Bier. Nach dem Abendessen fährt er zu seinem Stammlokal, wo er nach der Er-innerung von Augenzeugen auch hier nur ein oder zwei Bier trinkt. Danach fährt er nach Hause, zu Josi und seinem fünf Wochen alten Sohn Julian.

Dort schaut er wie jeden Samstag die Sportschau. Es ist neun Uhr als er sich entschließt, noch das Restaurant „Cockpit“ am Braunschweiger Flugplatz aufzusuchen. Er hat dort eine Verabredung mit seinem Fluglehrer Manfred Müller. Sie reden uber den nachsten Tag. Das soll ein wichtiger Tag fur Lutz Eigendorf werden, da sein erster Alleinflug ansteht. Eigendorf fragt, ob Müller den nachsten Tag neben ihm sitzen wird.
Nach der Erinnerung von Manfred Müller trinkt Eigendorf währenddessen ein oder zwei Bier. Es ist 22.00 Uhr als sich beide verabschieden, da sie morgenfrüh ja fliegen wollen.

Gut eine Stunde später, 23.08 Uhr: Die Polizei in Braunschweig erhält einen Anruf, wenige Kilometer entfernt von dem Braunschweiger Flugplatz auf der Forststrasse sei ein schwerer Verkehrsunfall passiert.

In einer Kurve ist ein schwarzer Alfa Romeo von der Fahrbahn abgekommen und gegen ein Strassenbaum geprallt. Die Polizei stellt wenig später fest, daß der Fahrer Lutz Eigendorf ist. Er hat schwere Kopfverletzungen und sitzt leb- und bewusstlos hinter dem Steuerrad. Eigendorf muß durch mehrere Feuerwehrleute aus dem Fahrzeug befreit werden. Danach wird Ihm durch die Polizei eine Blutprobe entnommen; zuvor hatte er jedoch wegen hohen Blutverlusts eine Bluttransfusion bekommen müssen. Trotz einer hohen Transfusionsmenge wurde immerhin noch eine Blutalkoholmenge von 2,2 p. m. festgestellt.

Kurze Zeit später wird Josi Eigendorf zu Hause angerufen: „Ich war gerade wach, weil das Kind geweint hatte und ich es zu mir ins Bett genommen habe.“ Danach ein weiterer Anruf. Ein Arzt aus dem Krankenhaus am Telefon, er sagte: „Frau Eigendorf, ich muss ihnen mitteilen, daß ihr Mann einen schweren Verkehrsunfall erlitten hat und bei uns im Krankenhaus liegt. Wahrscheinlich wird er sterben“.

Lutz Eigendorf hatte keine Chance. Schwere Schädelverletzungen hatten ein Schädelhirntrauma zur Folge. Zwei Tage später, am 7. März 1983, 9.15 Uhr stirbt Lutz Eigendorf.
Für die Polizei in Braunschweig ist alles klar. Der Abschlussbericht des Braunschweiger Polizeiobermeisters Hoppe führt aus: Nach bekanntwerden des Ergebnisses, der bei Herrn Eigendorf entnommenen Blutprobe muss davon ausgegangen werden, daß der Unfall auf den Alkoholgenuß zurückzuführen ist.

Für seine Frau, Familie und Freunde ist die Totesursache dennoch nicht so eindeutig. Lutz hatte nie viel Alkohol zu sich genommen. Bei der festgestellten Blutalkoholmenge von 2,2 p. m. müßte er unvorstellbare viereinhalb Liter Bier, das entspräche neun Glas zu 0,5 Liter, getrunken haben!
Nach dem Unfall hatte Lutz zudem die Bluttransfusion bekommen und erst danach wurde die Blutprobe entnommen. Der tatsächliche Promillesatz kann (muß?) deshalb als noch viel höher angenommen werden.
Nach der Erinnerung der Augenzeugen hatte Lutz wenig getrunken, weil für den nächsten Morgen anläßlich seines ersten weiten Fluges in bester Form sein wollte.
Josi Eigendorf denkt zunächst an einen Fehler bei der Blutprobe. Andere wiederum denken sofort an die Stasi. Lutz konnte in der Bundesrepublik nie die Furcht vor der Stasi überwinden. In den Medien kommen Spekulationen über einen Mordanschlag auf. Die Stasi hatte doch nicht umsonst die Abteilung XXII, deren „sorgfältige“ Ausbildung Anschläge jeder Art gegen Verräter wie Eigendorf einschloß?

Auch Dr. Heribert Schwan (Autor, Journalist und Verfasser von Fernsehdokumentationen) hörte von dem Schicksal Eigendorfs und die Fragezeichen zu seinem Tod. Schwan stellt Nachforschungen zum Tod von Eigendorf an.

Für sein Buch und Film „Tod dem Verräter!“ spricht er mit Eigendorfs erster Frau Gabriele Eigendorf-Freibier in Berlin, Tochter Sandy Eigendorf in Bonn sowie Josi Eigendorf und Sohn Julian in Kaiserslautern. Auch führt er Gespräche mit früheren Mitspielern von Eigendorf, dem Manager des FC Kaiserslautern, dem Fluglehrer Manfred Müller und Stasi-Mitarbeitern, die in den achtziger Jahren beteiligt waren an „der Jagd“ auf Eigendorf.

„Off the record“ bestätigen verschiedene Stasi-Mitarbeiter, daß Eigendorf Stasi-Opfer ist. Das Stasi-Motto in Ost-Berlin war: Tod dem Verräter! Nach anonymen Stasi-Quellen ist Eigendorf ermordet worden. Die Anonymität von Stasi-Mitarbeiter führt jedoch nicht weiter. Die Haupttäter müssen bekennen, womit nicht zu rechnen ist, oder es kommen eines Tages endgültige Beweise ans Licht. Sigrid Kretschmer und Roberto Welzel konnten neue Tatsachen herausfinden. Kretschmer und Welzel von der Berliner Gauck-Behörde arbeiteten im Auftrag von Heribert Schwan und suchten in de MfS-Akten nach Information über Lutz Eigendorf. Was sie dabei fanden, ist selbst für erfahrene Rechercheure wie Kretschmer und Welzel erschütternd.

Im Auftrage von Erich Mielke sind von März 1979 bis März 1983 über 50 Stasi-Mitarbeiter kürzere oder längere Zeit auf Eigendorf und dessen Familie angesetzt. (Erich Mielke war nach Erich Honecker der zweite Mann in der DDR und stand an der Spitze der Stasi). Er hatte zwei Hobbys: Jagen und Fussball. Er war Erster Vorsitzender des BFC Dynamo Ostberlin. Die Flucht seines eigenen Spielers Lutz Eigendorf erlebt er als eine persönliche Beleidigung. Wie alle Dynamo-Spieler wurde Eigendorf schon vor seiner Flucht durch die Stasi bespitzelt. Nach seiner Flucht jedoch wurde Eigendorf zum gejagten Wild.

Kurz nach seiner Flucht ist für Mielke und die ihn umgebenden Tschekisten das wichtigste, daß Frau und Tochter Eigendorfs und die Eltern „des Verräters“ nicht in den Westen folgen können. Um jeden Preis keine Familienzusammenführung! Gabriele Eigendorf wird rund um die Uhr überwacht, ihre Post wird kontrolliert, auf ihrer Arbeit wird sie durch einen Spion bespitzelt. Sie wird auf Schritt und Tritt verfolgt, besonders wirksam, da selbst der neue Ehemann ein Stasi-Spitzel ist.

Auch die Eltern von Eigendorf in Brandenburg unterliegen der totalen Kontrolle, sowohl zu Hause als auch auf der Arbeit. Alle Telefongesprache mit Sohn Lutz werden aufgenommen über Abhöranlage im Haus von Jörg und Ingeborg Eigendorf. Wahrend ihre Abwesenheit wird das Haus untersucht und fotografiert. Und überall sind Spitzel…. Sogar ein Neffe und der Hausarzt lassen sich vom MfS andienen. Alle körperlichen und psychischen Probleme sind einen Tag später der Stasi offenbart.

Lutz Eigendorf wird rund um die Uhr überwacht; verschiedene Spitzel sind auf ihn angesetzt. Die Rapporte sind sehr ausgebreitet: Tageseinteilung, Freundinnen seine Autos, Wohnungen, bevorzugte Bars, Fahrtstrecken, Adresse und Rufnummer von Mitspieler, Fotos von seinem Tennisverein, sogar das Lieblingsbier von ihm ist den Spitzeln berichtenswert.

Auffallend ist es für Kretschmer, Welzel und Schwan, daß sich Atmosphäre und Sprache ab Herbst 1981 in den Dokumenten ändern. Von neuen Maßnahmen ist da die Rede : Zur Lösung von Sonderaufgaben sollte ein weiterer IM gefunden und eingesetzt werden. Woran ist gedacht, was sind das für Sonderaufgaben?
Heribert Schwan kommt zu dem Schluß, daß ein Angriff (der Abteilung XXII) auf Leib und Leben von Eigendorf gemeint ist. Eine andere Hauptabteilung der Stasi wird eingeschaltet. Diese Abteilung ist verantwortlich für die Planung und Durchführung von Maßnahmen gegen Einzelpersonen, Personengruppen und Einrichtungen im sogenannten Operationsgebiet.

Moralische Probleme mit Mord hat die Stasi ohnehin nicht; an der Mauer werden sogar Kinder erschossen und die Folgen blindwütigen Waffengebrauchs als Unfall dargestellt. Im Fall Eigendorf muß das natürlich subtiler gemacht werden. Wolfgang Schmidt, Weltmeister im Kugelstoßen, redet 1981 bei einer Veranstaltung mit Erich Mielke. Als plötzlich im Gespräch der Name Lutz Eigendorf fällt, wirkt Mielke wie versteinert und sagt wörtlich: „Wenn ich will, spielt Eigendorf kein Fussball mehr.“ Am 21. Februar 1983 strahlt der Sender Freies Berlin ein Eigendorf-Interview aus. Sichtbar im Rücken Eigendorfs: Die Berliner Mauer. Mielke muß verrückt geworden sein, sollte er das gesehen haben.

Die Stasi: Militärische Dienstgrade, Namensgebungen nach „Revolutionären“ aus den Revolutionsbewegungen, Decknamen, Rapporte, unzählige Abteilungen… 85.000 offizielle Mitarbeiter und ungefähr 180.000 IM’s (Inoffizielle Mitarbeiter). Der offizielle Mitarbeiter Oberstleutnant Heinz Hess behält die Ubersicht. Aus Braunschweig weiß er jetzt alles über Lutz Eigendorf und hat zudem mit den IM’s "Kroll" und "Klaus Schlosser" zwei ausgezeichnete Mitarbeiter.

Vor allem über IM" Klaus Schlosser" (Karl-Heinz Felgner) war er sehr zufrieden. Elf Tage nach dem Tod von Lutz Eigendorf schrieb Oberstleutnant Heinz Hess in einer Beurteilung über den IM: "Klaus Schlosser" führt übernommene Auftrage gewissenhaft durch und schreckt nach wie vor vor keinem Risiko zurück.
Auch rapportiert Hess: Der IM "Klaus Schlosser" ist bereit und in der Lage, noch schwierigere und kompliziertere Aufgaben zu erfüllen. Die zwingende Frage: Wird mit Risiko und schwierigere und kompliziertere Aufgaben der Mordanschlag auf Eigendorf gemeint?

Schon in den sechziger Jahren war deutlich geworden, daß "Schlosser" extrem gewaltsam war.
Mehrfache Körperverletzung, gewaltsame Unzucht…. Für diesen Mann war Mord nur ein Schritt weiter.
Die Stasi-Archivalien über "Schlosser" ist sehr umfangreich und erscheint äußerst genau. Deutlich wird danach, daß "Klaus Schlosser" im Januar und Februar 1983 viel häufiger seinem Führungsoffizier Heinz Hess begegnete als bisher üblich. "Klaus Schlosser" kam am 11. Januar, und am 8., 14. und 22. Februar 1983 nach Berlin.
Auffällig: Nach dem Tod von Eigendorf am 7. März 1983 kam er nicht mehr nach Ost-Berlin… Auftrag erledigt??!!!

Am 7. März 1983 prämiiert das MfS Obersleutnant Heinz Hess mit 1000 Mark und "Klaus Schlosser" mit 500 Mark. Womit hat der alte „Freund“ von Lutz diese 500 Mark verdient? In den Stasi-Akten ist fast alles zu lesen über "Klaus Schlosser", aber die Dokumente für den Zeitraum von 1980 bis März 1983 fehlen. Die entscheidenden Dokumenten aus den Jahren 1980 bis zu Eigendorfs Tod im März 1983 wurden entnommen?
Gegenüber Heribert Schwan bestätigt Karl-Heinz Felgner ("Schlosser") später, daß er auch in Grassel bei Eigendorf, Frau und Kind gewesen ist. Weshalb ist das nicht rapportiert in die Stasi-Akten? Wo war "Schlosser " am Samstag, dem 5. März 1983? Genauer: Wo war "Schlosser" am besagten Samstag zwischen 10.00 Uhr und 23.00 Uhr abends ???

Die BStU-Mitarbeiter Kretschmer und Welzel konnten darüber nichts finden. Welzel entdeckt jedoch ein anderes Dokument. Es ist ein handschriftliches Dokument vom 19. September 1983 der bereits genannten Abteilung XXII. In diesem Vermerk wird geschrieben über chemische Substanzen anhand von Fallbeispielen aus der Praxis. Ausführlich wird auf ein namentlich nicht genanntes Mittel eingegangen, daß Lähmungserscheinungen ebenso bewirkt wie ein Nachlassen der Sinnesorgane, vor allem der Sehfähigkeit.

Dieses Mittel kann auf verschiedene Weise zugeführt werden. Auf Seite 22 ist zu lesen unter der Überschrift „Personengefährdung“ in Zeile 9: Zum Beispiel E.. "was im Raum führt langfristig zum Tode"? In Zeile 13 verweist ein Pfeil nach: Unfallstatistiken? Dahinter steht: von aussen ohnmächtig? In der nächsten Zeile wird „verblitzen“ genannt. Dahinter folgt der Zusatz Eigendorf. Die Abkürzung E. von Zeile 9 ist von derselben Hand geschrieben wie der Name Eigendorf von Zeile 14. Unter dem Namen Eigendorf steht hinzugefügt: "Narkosemittel".

Heribert Schwan ist fast sicher, daß es sich hier um Pläne zur Tötung Eigendorfs handelt. Der Name Eigendorf ist selten in Deutschland und Abteilung XXII genau die Abteilung für Mordanschläge gegen „Verräter“.
Auf Grund von mündlichen und schriftlichen Hinweisen und der Recherchen von Kretschmer und Welzel vermutet Heribert Schwan, daß folgendes geschah:
Der Mörder hat Eigendorf vor dem Restaurant „Cockpit“ aufgelauert und ihn in seinem eigenen Alfa gekidnappt. Unter Todesdrohung sei ihm Alkohol eingeflösst worden, der mit einer giftigen Substanz angereichert gewesen war. Nach einer guten Stunde - alles muss sich in Eigendorfs Auto abgespielt haben - sei der unter der Wirkung von Alkohol und der beigemischten Substanz stehende Eigendorf auf der unauffälligen Forststraße seinem sicher voraussehbaren Schicksal überlassen worden: Unfalltod! Aufgefordert, sofort zu verschwinden, sei er ohne Gurt und in höchster Todesangst losgerast.
In der Seitenstrasse vor dem Baum, der Eigendorf zum Verhängnis werden sollte, muss ein Pkw im Dunkeln gelauert haben, der seine Scheinwerfer aufblendete, als Eigendorf heranraste, und ihn so kurzfristig blind gemacht hat. „Verblitzen“ nannte der DDR-Geheimdienst eine solche Vorgehensweise (siehe das Dokument von Abteilung XXII).

Die Untersuchungen von Kratschmer, Welzel und Schwan, das Buch und Video von Heribert Schwan „Tod dem Verräter!“ haben dazu geführt, daß die Untersuchung nahezu zwanzig Jahre nach dem Tod von Lutz Eigendorf wieder eröffnet wurde. Jetzt, August 2003, dauern die Staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen noch an, aber längst nicht so intensiv wie Heribert Schwan wünscht.

Lutz Eigendorf starb am 7. März 1983; die Beerdigung fand statt in Kaiserslautern am 17. März 1983.
Frau Josi Eigendorf: „Mit seinem Tod ist er nicht aus meinem Leben gegangen. Natürlich in seiner Person ja, aber ich habe seinen Sohn und ich denke immer noch an ihn. Da kommen immer Zeitpunkte, mal mehr mal weniger, wo man an ihn denkt. Ich überlege mir natürlich auch manchmal wie wäre es alles gekommen, wenn es nicht passiert wäre, was würden wir heute machen, was würde er machen, was würde ich machen, dann hätte mein Leben sich ganz anders entwickelt“.

Tochter Sandy Eigendorf: „Ich bin einfach stolz, seine Tochter zu sein. Ich bin stolz, seinen Namen zu tragen, Eigendorf zu heißen. Ich denke auch selten traurig darüber, oft voller Freude, wenn ich an ihn denke. Es ist natürlich schon traurig, daß ich ihn nie als Vater kennengelernt habe. Mich nicht daran erinneren kann, wie überhaupt seine Stimme war oder so“.

Jörg und Ingeborg Eigendorf durften zur Beerdigung ihres Sohnes in Kaiserslautern kommen. Sie nutzten die Gelegenheit und blieben im Westen. Jetzt wohnen Sie noch immer in Kaiserslautern. Jörg Eigendorf will nicht mit Journalisten über den Tod seines Sohn reden. Josi Eigendorf und Sohn Julian leben auch in Kaiserslautern, Tochter Sandy wohnt in Bonn. Lutz erste Frau lebt noch immer in Ost-Berlin und heißt jetzt Gabriele Eigendorf-Freibier. Erst nach dem Fall der Mauer hörte die Familie von Lutz Eigendorf wie sie bespitzelt wurden und wurde deutlich, weshalb Peter Hommann Gabriele geheiratet hatte.

Erich Mielke ist am 21. Mai 2000 gestorben, er wurde 92 Jahre alt. Heinz Kuhn alias IM „Buchholz“ ist 1995 gestorben. Die anderen eingeweihten Stasi-Mitarbeiter, die noch am Leben sind, wollen keine Antwort geben auf die Fragen, was im Zeitraum von März 1979 bis März 1983 geschehen ist.

An der Bespitzelung der Eigendorfs waren mehr als 50 Persone beteiligt. Viele sind jetzt gut betuchte Pensionäre, nachdem das Bundesverfassungsgericht das angebliche „Rentenunrecht“ überwinden half; andere arbeiten noch immer artverwandten Jobs.

Karl-Heinz Felgner alias IM “Klaus Schlosser“ war Krimineller, Berufsboxer, Kellner und Stasi-Mitarbeiter und ist jetzt ein erfolgreicher Kaufmann im Rheinland.

Der Mannschaftsarzt des BFC Dynamo, Dr. med. Kurt Poltrock, war auch ein Spitzel. Der Mannschaftsarzt ist allgemeinhin Vertrauensmann, ihm kann man alles erzählen. Nicht so in Ost-Berlin. Dr. med. Kurt Poltrock alias IM „Peter Jochen“ berichtete alles über „seine“ Spieler der Stasi. Auf Grund des so erworbenen Vertrauens wurde er auch zur Aufklärung und Sicherung der Reisekader des BFC Dynamo eingesetzt.

Glücklicherweise waren seine psychologischen Einschätzungen nicht so gut. Dr. med. Poltrock verfaßte ein Psychogramm für die Stasi über Lutz Eigendorf kurz vor dessen Flucht nach Kaiserslautern. Nach einem Bericht von zwei Seiten hat er die folgende Konklusion: "Ich sehe auf Grund seiner Ehrlichkeit auch keine Gefahr, daß er bei Auslandsstarts unseren sozialistischen Staat verraten könnte". Heute hat Dr. Kurt Poltrock eine große orthopädische Privatpraxis in der Friedrichstraße 133 in Berlin….


Harry Walstra, Holland, den 12. August 2003 - update: 17. August 2009


Diese Geschichte basiert ganz überwiegend auf den Tatsachen des Buches und Videos „Tod dem Verräter!“ von Heribert Schwan. Die Ausführungen von Josi und Sandy Eigendorf wurden wörtlich übernommen aus dem Video. Ich danke Herrn Schwan fur seine sympatische Hilfe.

Auch herzlichen Dank an Herrn Griese von der Bundesbeauftragten fur die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), ebenso für das Lektorat an Reinhard Dobrinski, Vorstandsvorsitzender vom FORUM zur Aufklärung und Erneuerung e. V. sowie Marlis König vom Kicker-Sportmagazin. Das Buch „Tod dem Verräter!“ wurde herausgegeben durch den Knaur Verlag in Munchen.

Weitere Informationen:
http://www.mdr.de/doku/archiv/107784.html
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